Ende und Anfang einer Reise
Seit ich sie erkannt habe, hat sie mich fasziniert. Die Sonne. Sie ist nicht nur kühl-intellektuell betrachtet die Voraussetzung für alles Leben, so wie das Wasser. Sie ist mehr. Sie ist das Leben. Sie? Warum nicht der Sonne? Männlich wie helios oder soleil. Sei’s drum. Sonne! Der Schein von Sonne ist nicht nur Voraussetzung für Leben, die Strahlen geben Kraft, lassen wachsen, erblühen, geben Leben. Was von alldem was wir kennen, ist nicht am ehesten ein Gott, wenn nicht Sonne? Verehrt in vielen Kulturen, vergöttlicht wie im alten Ägypten bei Echnaton oder den Inka in Peru.
Dort bin ich jetzt. Dort sind wir jetzt. Meine Frau und ich. In Peru. Unsere erste Fernreise. Fast ans andere Ende der Welt. Peru: Bunt, arm und katholisch. Heute. In der präkolumbianischen Zeit groß und reich. Sehr groß. Vom heutigen Kolumbien bis hinunter nach Chile und Argentinien. Und sehr reich. Unermesslich reich. Gold. Überall. Gold und Sonne. Sonne als Gott. Verehrt. Mit dem höchsten Gut verehrt, dass die Menschen haben. Dem Menschenleben. Das Herz, das Leben, für Sonne.
Peru: Sonne ist stark. Ich spüre es noch vor dem ersten Schritt aus dem Flugzeug. Wärme, sonnige Wärme. Noch ein Schritt. Umhüllt von Sonne. Doch das vielfältige Neue holt mich ein. Gepäckausgabe, Transfer zum Hotel. Lima. Treffen mit den anderen der Reisegruppe.
Wie viele Stunden sind wir schon wieder mit dem Bus gefahren? Laut ist es und warm. Endlich eine Pause. Raus aus dem Bus. Rein in Sonne und Wind. Der Wind nimmt die Hitze, nicht aber die brennende Kraft von Sonne. Um uns herum Sand und Steine. Kargheit. Sonne kann töten. Wie Gott. Verbrennen, verglühen. Man kann nur fliehen und Schutz suchen. Einen Kampf kann man nicht gewinnen. Nicht gegen Gott.
Bewegen! Meine Füße wollen gehen, mein Körper will sich recken und strecken und sich im Gleichklang mit den Füßen bewegen. Ich schaue zu Sonne, kurz nur, die Augen schließen sich und ich sehe nur noch rot und muss mich abwenden. Geblendet öffne ich die Lider und sehe ein Gesicht. Ein Gesicht, das schon sehr lange von Sonne umfangen wurde. Wie alt mag es sein? Sonne tötet auch. Es ist ein männliches Gesicht, von einem Indio. Unsere Blicke treffen sich. Ruhig schauen wir uns an, abwartend.
Ich meine, etwas von „hombre“ und „sol“ zu verstehen und höre mich selbst „hombre de sol“ sagen. Die Blendung lässt nach und ich kann den ganzen Mann sehen. Er sieht aus, als sei er einem Inkabuch entsprungen. Federn im Haar und am Umhang.
Er geht, ich folge ihm. Einige Dutzend Schritte weiter sehe ich einen Steinquader mitten in einem Kreis. Der sandige Boden ist vom Wind gewellt. Der Indio geht voran. Ich überschreite den Rand. Die Haare an Armen und Nacken richten sich auf, ich habe heiligen Boden betreten. Vor dem Altar bleibt der Inka stehen und lässt den Umhang von seinen Schultern gleiten. Bis auf einen Lendenschurz ist sein sehniger, muskulöser Körper nackt. Über seinem Herzen trägt er eine Tätowierung. Sonne. Wie der Anhänger, den meine Frau mir geschenkt hat, einfach und schön, flammenartige Strahlen und ein roter Glitzerstein in der Mitte. Er hängt am Rückspiegel meines Autos, schwebt immerzu vor meinen Augen und glitzert im Sonnenschein blutrot.
Der Mann wirkt erhaben, strahlt von innen, eine Aura umgibt ihn. Ein Priester. Er nickt und ich lege mich auf den Altar. Ruhig beugt sich der Sonnenpriester über mich und reißt mit einem Ruck mein Hemd auf. Seine rechte Hand verschwindet hinter seinem Rücken und taucht mit einem schmalen Messer wieder auf. Mein Herz setzt einen Schlag aus, dann prickelt es in meiner Brust. Die Spitze berührt die Haut über meinem Herzen, dann dringt sie ein. Ein Stich, ein Schmerz, Erregung. Dann wieder und wieder. Immer wieder. Jeder Stich durchflutet mich mit sonniger Hitze, Lava pulst in meinen Adern. Es kann ewig so weitergehen, so ewig wie Sonne strahlt. Doch ich weiß, die Tätowierung wird fertig werden. Eine Sonne mit flammenden Strahlen und blutrotem Herzen.
Ich warte, doch ich weiß, der letzte Stich ist gesetzt. Schade, aber es ist vollendet. Hitzige Leichtigkeit erfüllt mich. Uns. Wir setzen uns auf. Ich und ich. Ich löse mich. Neben mir erhebe ich mich vom Altar. Ich schwebe und gehe unter mir zurück. Zurück zur Gruppe und zu meiner Frau. Auflösung, gleich schmelzenden Goldes im Horizont. Eins mit dem Himmel. Gleißende Erkenntnis. Ein letztes Mal ein menschlicher Blick – in die Zukunft. Ich greife das Herz meiner Frau, Blut tropft vom Handgelenk, das Fleisch pocht in meiner Hand. Ich erstrahle göttlich im Abendrot.
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