02. September
Am nächsten Morgen saß ich zwischen den vielen anderen Eltern in der Schulaula, mein Mann Robin auf der einen Seite, eine Mutter auf der anderen.
Der Schulleiter machte eine kurze Ansprache, betonte die Wichtigkeit des neuen Lebensabschnitts, in den unsere Kinder nun einstiegen. Dann rief er ein Kind nach dem anderen auf. Alphabetisch.
Wieso war ich so nervös?
"Feanor Schulz."
Ich schluckte.
Mein Sohn wurde von einem älteren Schüler, seinem Schulpaten, auf die Bühne zu den zwei Dutzend anderen Kindern geführt. Er bekam eine Sonnenblume in die Hand und stand dort glücklich und unsicher zugleich.
Verstohlen wischte ich mir die Tränen aus den Augen. Ich wusste nicht - und weiss immer noch nicht -, woher die Rührung kam. Er war sechs. Es gibt Schulpflicht. Als ich dem noch selbst unterworfen war, hatte ich Schule immer gehasst. Jetzt hielt ich sie für eine der Hauptinstitutionen, die soziale Ungleichheit fortschrieben und aus kreativen Menschen hirnlose Verwertungsobjekte machten. Aber da waren sie, die Tränen. Da war er, mein Sohn. Sechs! Ich schluckte noch einmal. Eine Träne tropfte in meinen Schoß.
Der Schulleiter verriet der neuen ersten Klasse den Namen ihrer zukünftigen Klassenlehrerin und forderte sie dann auf, sie gemeinsam zu rufen.
"Frau Weigelt", sagten einige der Kinder zaghaft.
"Oh, ich glaube, das hat sie noch nicht gehört", sagte der Schulleiter freundlich.
"Frau Weigelt", riefen schon mehr Kinder.
"Noch ein bisschen lauter."
"Frau Weigelt", hallte es durch die Aula und eine junge Frau stand auf und schritt mit einem strahlenden Lachen auf ihre neue Klasse zu.
Ich schniefte und strich mir die Tränen von den Wangen.
Die Frau neben mir reichte mir ein Taschentuch.
Ich lachte auf und nahm es dankbar an und wischte mir die Augen.
Dann sah ich sie an und sie heulte auch.
Offensichtlich war es wasserfeste Wimperntusche, mit der sie ihre Augen akzentuiert hatte, da sie nicht verlief, als sie sich selbst vorsichtig die Tränen unter den Augen abtupfte. Das sanfte Tupfen tat ihrer gepflegten Erscheinung keinen Abbruch. Als ich ihr grausilbernes Kostüm und die perfekte Pagenschnittfrisur betrachtete, kam ich mir etwas underdressed vor, mit verwaschener Jeans und T-Shirt. Hätte ich mich für die Einschulung feiner anziehen müssen?
Na, du verstehst es echt, einen zauberhaften Moment zu ruinieren, vernahm ich Ypeys Stimme in meinem Kopf.
Du bist noch da?, erwiderte ich unsicher.
Klar, so aus meiner Perspektive ist dein Leben doch nicht so langweilig, wie es erst aussah, als du vor dieser eckigen Kristallkugel saßt und mit erstaunlicher Fingerfertigkeit die magischen Kontrollen bedient hast.
Tu nicht so, gestern hast du genau gewusst, was Java-Klassen sind, da brauchst du meinen Computer nicht mit Fantasy-Ausdrücken zu beschreiben.
Sie lachte.
Mittlerweile hatte Frau Weigelt die Klasse von der Bühne geführt und sie zu ihrer allerersten Schulstunde mitgenommen. Wir Eltern und Großeltern und wer noch alles da war durften Kaffee trinken und das erste Beschnuppern hinter uns bringen.
Die Frau, die mir ein Taschentuch gereicht hatte, schob einen Kinderwagen, der an ihrem Ende der Stuhlreihe gestanden hatte, an den Rand der Aula, so dass er dem Strom der Menschen, der zur Kuchentheke pilgerte, nicht im Wege stand.
"Guten Tag, ich bin Hedwig Schulz", begrüßte ich sie. "Danke für das Taschentuch zur rechten Zeit."
"Linda Berger", antwortete sie. "Sie sind gerade gegenüber von uns eingezogen, nicht wahr?"
"Oh, tatsächlich? Ja, der Kinderwagen ist mir schon ein paarmal aufgefallen. Aber ich hatte noch keine Zeit, mich gegenüber vorzustellen", sagte ich entschuldigend. "Nebenan habe ich schon mal angeklopft, aber \dots"
"Umzüge sind anstrengend, nicht wahr?", half sie mir aus.
Ich stimmte eifrig zu.
"Wann seid ihr eingezogen, Anfang August?", fragte sie und während ich nickte, machte ich mir sofort Vorwürfe, dass ich schon seit fünf Wochen da wohnte und immer noch nicht die Nachbarn kannte. Ich machte mir auch Vorwürfe, dass es immer noch nicht viel besser aussah, in unserem neuen Häuschen, als am Umzugstag.
"Das ist mein Mann Robin", stellte ich ihn vor, weil ich das Thema wechseln wollte und er gerade unschlüssig neben mir stand und zur Kuchentheke schielte.
Die beiden gaben sich die Hände.
"Sollen wir uns gleich Duzen?", bot Linda an und ich nahm es dankbar an.
"Ich gehe uns Dreien mal Kuchen holen", sagte Robin und verschwand.
"Wie heißt denn euer Kind?", fragte Linda mich.
"Feanor."
"Feanor? Das ist ja ein schöner Name", sagte Linda höflich. "Woher kommt der?"
"Aus dem Silmarillion", erwiderte ich. Als ich ihren leeren Blick gewahrte, fuhr ich fort: "Das ist die mythische Sagenwelt, auf die der Herr der Ringe aufbaut. Feanor ist der, der die Silmaril geschmiedet hat und die Elben entzweit." Irgendwie ahnte ich, dass sie das so genau gar nicht wissen wollte. Also fügte ich bodenständiger an: "Es war ganz schön schwierig, das Meldeamt dazu zu bekommen, den Namen zu akzeptieren. Von meinem Mann ganz zu schweigen."
Sie lächelte erleichtert. Die letzten beiden Sätze hatte sie wieder verstanden.
"Und, Linda, wie heißt dein Kind?", fragte ich nach, obwohl ich vermutete, dass ich es in der Klassenliste hätte sehen können.
"Richard", antwortete sie.
"Richard", wiederholte ich lächelnd und dachte den Namen dann noch einmal, diesmal auf englisch und freute mich, dass die Legend Of The Seeker Fernsehserie gedreht wurde.
"Und du bist Kahlan", sagte ich albern zu dem kleinen Baby, das mich mit hübschen, feuchten Augen aus dem Kinderwagen heraus anstrahlte. Ich wusste ja, dass dem Baby die Worte egal waren, solange die Emotionen stimmten. Der Mutter nicht.
"Das ist Kirsten", sagte Linda reserviert und als ich mich wieder aufrichtete, um sie anzusehen, hatte sie kurz die Augen zusammengezogen. Natürlich hatte sie mit meiner Bemerkung nichts anfangen können.
Kirsten, Kirsten, Kirsten, dachte ich panisch und grabschte in meinem Geist wild umher, um einen Fantasy-Roman zu finden, in dem eine Kirsten vorkam. Ich fand keinen. Ich fand keinen!
Innerlich seufzend drehte ich mich wieder zu dem Baby um und sagte sanft: "Hallo Kirsten!"
Dabei hoffte ich, dass sie nicht das Bedauern in meiner Stimme hörte, weil sie einen so wenig referenzierenden Namen hatte.
Hey, schaltete sich Ypey protestierend ein. Es ist nicht so, dass `Ypey' in irgendeinem Roman vorkommen würde, oder?
Nein. Aber hör mal zu: 'Y-pey'. Der Name klingt auch so nach Abenteuer und Zauberei. Ich meine zwei Ypsilon!
Ypey kicherte und ich verkniff mir ein Grinsen, das Linda sicherlich weiter entfremdet hätte.
"Linda, ich würde dich gerne am Sonntag Nachmittag zum Kaffee einladen."
"Das ist aber nett. Ich komme sehr gerne. Ich bringe auch gerne einen Kuchen mit."
"Nein, nein, lass nur. Ich mache Waffeln. Einen Kuchen kann ich noch nicht backen, weil wir noch keinen Backofen haben, aber den Umzugskarton mit dem Waffeleisen habe ich schon gefunden."
Sie sah mich irritiert an. Vermutlich wusste sie nicht, ob ich einen Witz gemacht hatte oder nicht. Aber ich meinte es völlig ernst. Ich hatte unter den 30 Kartons mit Küchendingen den mit dem Waffeleisen schon gefunden. Es war einer von den großen weißen und ich wusste genau, wo er stand. Drei Kartons standen in dem Stapel darüber, aber die konnte ich schnell mal beiseite räumen.
Als ich nicht selbst über meine Bemerkung lachte, setzte sie ein geschultes Lächeln auf.
"Wie wäre es, wenn du zu mir kommst?", schlug sie vor. "Dann hast du weniger Stress, wo du doch gerade erst umgezogen bist."
Ich holte Luft, um zu protestieren.
"Du kannst mich dann ja eine Woche später einladen", verhinderte sie meinen Protest.
"Äh, na gut." Jetzt kam ich mir so vor, als hätte ich mich bei ihr eingeladen. Aber das sagte ich nicht. Stattdessen stellte ich mir vor, wie Kirsten zwischen den wackeligen Kartonstapeln sitzen würde. "Vielleicht ist das wirklich besser."
Puh.
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