12. September
Ich pustete in den Becher mit dem zu heißen Kaffee, den ich mit beiden Händen hielt. Um mich herum lachten die anderen, unterhielten sich, erzählten sich Neuigkeiten. Ich stand an der Wand, starrte auf den Urlaubsplan, ohne ihn zu sehen, und wälzte Parametersätze durch meinen überforderten Verstand.
Was machst du hier?, fragte Ypey wieder einmal.
Das fragte sie oft. So als zweifelte sie, dass ich Gründe hatte, für das, was ich tat. Gründe für mein Leben.
Kaffeetrinken, antwortete ich trocken, während mein Hinterkopf noch die letzten Zahlen und Implikationen der Modellergebnisse verdaute.
Ich nahm einen Schluck. Ich mochte ihn zu heiß.
Lass mich die Frage umformulieren, erwiderte Ypey ungerührt. Warum gehst du jeden Tag in diesen blaugrauen Kasten, den du Büro nennst, mit einer Tür und einem Fenster und einem Geist in zwei Gehirnen, die es bevölkern?
Wie kommst du darauf, dass Florian dumm wäre?, fragte ich und meine Augen wanderten zu ihm, wie er sich mit Wilhelm unterhielt.
Ich habe nicht gesagt, dass er dumm wäre. Ich meinte, dass er keine Phantasie hat. Jegliche Kreativität läuft aus ihm heraus, wie aus einem lecken Eimer, verschwindet im Staub des trockenen Linoleum-Bodens.
Wie poetisch, spottete ich. Er macht hervorragende empirische Arbeit.
Vielleicht. Aber du mit deinen Modellen. Du hast Phantasie.
Zu viel. Es geht in der Wissenschaft nur bedingt um Phantasie. Eigentlich sollten die Modelle auf Daten beruhen.
Ah, lenk nicht ab, sagte Ypey. Also, warum gehst du jeden Tag ins Büro?
Damit ich Geld verdiene, erwiderte ich matt.
Seufzend setzte ich mich auf einen freien Stuhl.
"Hedwig, alles okay bei dir?"
Nicole war plötzlich an meiner Seite. Meine Kollegin in Elternzeit, für die wir dieses Kaffeetrinken veranstalteten.
Ich lächelte sie mit der hormonschwangeren Sanftheit an, mit der ich seit Feanors Geburt frischgebackenen Eltern begegnete. Und ihren Babys. Natürlich gab es das Kaffeetrinken nicht für Nicole, sondern für ihr Baby, das sie uns gerade zum ersten Mal vorstellte. Jette.
"Darf ich sie mal halten?", gurrte ich und fühlte die Flüssigkeit unter meinen Augen. Zum Glück noch innen. Ich stellte schnell den Kaffee ab. Nicole gab mir ihre Tochter und ich schmiegte ihr Köpfchen in meinen Arm, streichelte ihre Wange, legte meinen Finger in ihre winzige Hand. Ein zufriedenes Lächeln lag auf meinem Gesicht, als ich die Sehnsucht da sein ließ. Ein Baby.
Dann machte es klick und mein Verstand übernahm.
Ich wusste genau, wie wenig Wahrheit das prototypisch transportierte Babyglück tatsächlich beinhaltete. Zu wenig Schlaf. Zu viel Geschrei. Die Hälfte der Zeit bist du damit beschäftigt, Windeln zu wechseln, vollgekotzte Klamotten zu waschen - die des Babys und deine eigenen - Arzttermine, Kinderwagen schieben, ja nicht anhalten, Stillen, Brei kochen, beim Füttern versagen und immer immer wieder die Unfähigkeit, dem Geschrei so zu begegnen, dass es aufhörte zu schreien. Dass es bekam, was es wollte.
Jette schrie gerade nicht. Wachsam sah sie mich an.
Was willst du, Kleines?, dachte ich und fühlte es nicht.
So wie ich schon bei Feanor nicht gespürt hatte, was ihm fehlte.
Angeblich spüren Eltern so etwas. Ich nicht.
Ich gab Nicole ihr Baby zurück und versicherte ihr, wie süß Jette war, lobte die wachen Augen und den Greifreflex. Ich hatte bekommen, was ich wollte. Die Überzeugung, dass ein zweites Kind für mich nicht in Frage kam, war wieder da. Fest. Unumstößlich.
Lass mich die Frage noch einmal umformulieren, sagte Ypey trocken. Was machst du hier ... auf der Welt?
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