30. September
"... und ich habe ein kleines Geschäft für Perlen, Tücher und andere Dekorationssachen. Das war lange mein Traum gewesen."
Die Schlange kroch bedrohlich auf mich zu. Wir saßen auf zu kleinen Stühlen im herbstlich geschmückten Klassenzimmer meines Sohnes. Ich hasste diesen Druck. Wie sollte ich etwas Authentisches über mich sagen - in zwei Sätzen?
"Hallo", sagte Linda fröhlich in die Runde. "Ich bin Linda Berger, die Mutter von Richard. Momentan bin ich mit meinem zweiten Kind zuhause. Kirsten ist acht Monate. Bei Richard hatte mein Mann Elternzeit genommen, jetzt bin ich mal dran."
Oje, und gleich bin ich dran.
Du hast nicht zugehört, meine Ypey. Das war---
Sei still!
Aber Linda war noch nicht fertig.
"Und ich möchte noch sagen, wie froh ich bin, dass Richard sich hier so wohl fühlt. Vielen Dank für die herzliche Atmosphäre, Frau Weigelt."
Während zustimmende Laute aus der Runde zu hören waren, lächelte Linda mich auffordernd an.
"Äh", begann ich lahm. "Also ich bin Hedwig Schulz, die Mutter von Feanor." Eigentlich reichte das, fand ich. Eine Kleinigkeit, wenigstens! "Ich arbeite wenigstens ... ich meine, ich arbeite an der Uni. Als Modelliererin." Ich sah die leeren Blicke ohne aufzusehen. "Als Informatikerin", setzte ich nuschelnd hinzu und gab schnell mit einem Blick an den bleibten Mann neben mir weiter.
"Vanhouten, mein Name", polterte der.
Einerseits war ich erleichtert, dass ich es hinter mit hatte. Andererseits wusste ich nicht, was ich erschreckender fand: Dass mir nichts Wichtigeres über mich zu sagen einfiel als mein Beruf oder dass diese zwei Sätze tatsächlich mehr über mich aussagten, als ich wahr haben wollte.
Wenigstens konnte ich wieder zuhören.
"Ich bin Finanzmarkt-Analyst bei einer der top five Banken. Keine Schleichwerbung ... Haha! Also, wenn jemand Tipps braucht, scheuen Sie sich nicht, mich zu fragen. Ich weiß mehr, als die typischen Anlageberater, die doch nur ein veraltetes Katalogwissen abspulen. Ha ha ha."
Ich wollte zwar keinen Tipp, aber ich hätte gerne gewusst, wie sich ein trockener Grashalm fühlt, der dem heranrasenden Sturm der Finanzkrise wehrlos und wissend entgegen blickt.
Warum fragst du ihn dann nicht?, wollte Ypey wissen.
So sinnvoll ist der Vergleich auch nicht. Die Grashalme haben den Sturm ja nicht selbst entfacht.
"Entschuldigung. Wessen Vater sind Sie?", wollte ein Vater von gegenüber wissen. Ich hatte natürlich schon wieder vergessen, wer das war.
"Marie-Ann Vanhouten", sagte der Banker, so als hätten sich das alle schon eingeprägt haben müssen.
Bist du denn sicher, dass die Banker für die Krise verantwortlich sind?, fragte Ypey.
Ich stutzte und schaute nachdenklich in die Mitte, in der ein Blumenstrauß auf dem Linoleumboden stand.
Du hast natürlich recht. Das ist ein zentrales analytisches Erbe von Marx: Selbst diejenigen, die Kapitalismus predigen, sind nicht von den entfesselten System-Mechanismen geschützt. Wer sollte das besser wissen, als eine Modelliererin wie ich!
Da war die Runde zuende und ich bemühte mich, meine Aufmerksamkeit auf Frau Weigelt zu konzentrieren.
"So dann noch einmal herzlich Willkommen, liebe Eltern!", sagte sie. "Der erste Punkt auf der Tagesordnung ist die Wahl der Elternvertreter. Wer von Ihnen könnte sich vorstellen, das zu übernehmen?"
Der Banker neben mir hob seine Hand. Während Frau Weigelt "Vanhouten" an die Tafel schrieb, schauten wir anderen uns flehentlich um, ob sich noch jemand meldete. Hier und da tuschelten Eltern, die sich schon kannten. Und auch Linda stieß mich an.
"Willst du nicht?", flüsterte sie.
Nein. Ich wollte nicht. Aber ich wollte auch nicht einem Apologeten des Kapitalismus das Feld überlassen.
Ich hob also zaghaft---
Wowowo! Hold on there, partner. Today is don't be stupid day. You can't do that!, sagte Mike Muir in meinem Kopf und ich brauchte einen Moment, um zu merken, dass Ypey eine perfekte Imitation geliefert hatte. Ich grinste in mich hinein. Sie hatte recht. Das wäre eine totale Schnapsidee. Ich schaffte so schon kaum meine Arbeit, meine Stunden, sicher, aber längst nicht alles, was ich vor Abgabeterminen und Antragsdeadlines immer alles machen musste, geschweige denn, dass es mit dem Programmieren so schnell voranging, wie es sollte. Ich seufzte also und meldete mich nicht. Stattdessen gab ich den Ball an Linda zurück. Als die sich endlich meldete, atmete ich auf.
Hast du heimlich Musik gehört?, fragte ich Ypey.
Wieso heimlich? Das lief, als wir vorhin Wäsche aufgehängt haben.
Wir!, schnaubte ich. Du hast keinen Finger gerührt.
Sie lachte.
Ich dachte nach.
Es stimmte. Vorhin war Suicidal Tendencies gelaufen und ich hatte entgegen meiner normalen Gewohnheit den Monolog-Prolog zu Start your brain nicht übersprungen. Er war gut und witzig, aber nach zwei, drei Mal reichte es eigentlich auch. Was mir anfing, ein bisschen Sorgen zu machen, war die Tatsache, dass sie, ohne dass ich etwas davon mitbekam, einen Teil meines Gehirns nutzte, um zu hören, zu sehen, zu denken.
Hör mal, Ypey, dachte ich. Was bist du eigentlich? Und was willst du?
"I am what man has made me with his hate and cruel ways", sang Ypey und ich konnte nicht umhin, amüsiert den Kopf zu schütteln, als Erinnerungen an ein Festival auf mich einstürmten. Campingplatznachbarn hatten sich zu den genervten Kommentaren ihrer Freundinnen ausschließlich in Iced Earth Singsang unterhalten. Stundenlang. So etwas geht natürlich nur in besoffenem Kopf.
Moment.
Die Heiterkeit war verschwunden.
Iced Earth war heute nicht gelaufen. Tatsächlich hatte ich eben diese Platte schon eine ganze Weile nicht mehr gehört.
Stöberst du etwa in meiner Erinnerung?, fragte ich empört.
Krieg dich wieder ein, höhnte sie. Ich bin ein Teil von dir. Ich weiß alles, was du weißt. Du weißt alles, was ich weiß. Wir sind ein und dieselbe Person.
Das stimmte. Sie war nur meine Vorstellung.
Wie hatte ich eben denken können, sie wäre eine eigenständige Person? Völlig bescheuert.
Eine Feststellung, die mich in keiner Weise beruhigte.
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