01. Oktober
The earth moves under our feet.
Schweiß rann mir über die Schläfen und den Nacken hinunter. Ich blinzelte meine tränenden Augen frei. Die kalte Oktoberluft biss in ihnen. Mein Atem dagegen brannte. Die Füße setzten sich nur wegen des starren Rhythmus voreinander. Die schweren Beine strebten der Erde entgegen. Der iPod nano in meiner Hand war feucht und glitschig.
Das alles hatte ich erst gemerkt, als mich diese Textzeile aus meinem Stumpfsinn riss. Den Stumpfsinn suchte ich im Laufen. Ich betete ihn an. Es war dieser endorphingesteuerte Rausch, der in der gleichförmigen Bewegung an den Grenzen meiner Kraft meinen Geist frei setzte.
Mein Blick fiel auf den Weg aus fester Erde mit wenigen walnussgroßen Steinen darin. Die Erde war rotbraun, die Steine graubraun. Am Wegesrand wuchsen Gräser und Kräuter und Büsche und Bäume. Sie tobten im Sturm, heruntergefallene Erlenblätter flatterten vor mir her. Für mich waren es die Blätter der Weltenesche. Unter meinen Füßen bewegte sich die Erde. Schöner Song zum Joggen.
Die letzten zwanzig Minuten hatte mich der Text eines anderen Stücks von Amon Amarth durch den Rausch getragen. Die Stücke dazwischen waren meiner Wahrnehmung entglitten, als ich zusammen mit anderen Riesen in einem tausendjährigen Kampf die Mauern von Asgaard verteidigte. In den letzten Wochen hatte ich jedes Mal diese Platte beim Joggen gehört und war immer durch Guardians of Asgaard in die Benommenheit geführt worden, die ich so ersehnte.
Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn, als ich vor unserer Haustür zu einem zögerlichen Halt kam, der wie immer mit einem vagen Gefühl von Verlust einherging.
"Ach, du gehst auch joggen?", fragte Linda mit ihrer freundlichen Stimme. Sie war gerade gegenüber aus ihrem Haus gekommen. Wahrscheinlich war sie erleichtert, dass sie endlich etwas gefunden hatte, worin wir uns glichen. Etwas, das sie verstand. "Vielleicht können wir mal zusammen laufen."
Langsam drehte ich mich um.
Erwartungsvoll sah sie mich an.
In mir tobte der Widerstand.
"Äh, ja vielleicht", antwortete ich. "Ich gehe oft ganz spontan. Und ich laufe ganz langsam. Ich will dich nicht bremsen."
"Ach, das ist kein Problem. Ich kann mich deinem Tempo anpassen. Sag doch Bescheid, wenn du das nächste Mal spontan laufen willst. Wenn ich dann Zeit habe, komme ich einfach mit."
"Ja, gut", gab ich niedergeschlagen zu, dass sie gewonnen hatte, weil ich mich in Unehrlichkeiten verstrickt hatte.
Feigling, zischte Ypey in meinem Kopf.
Was hätte ich denn machen sollen?, gab ich unglücklich zurück.
Willst du denn mit ihr joggen?
Nein, natürlich nicht.
Vor meinem inneren Auge sah ich mich schon aus dem Fenster spähen um den richtigen Zeitpunkt abzupassen, zu dem Linda gerade einkaufen war. Verabscheuungswürdig.
Und warum nicht?, hakte Ypey nach, als ob sie es nicht genau wüsste.
Ich wurde zornig. Falsche Freundlichkeit brachte stets die Wut mit sich.
Mein täglicher Verteidigungskampf um die Mauern von Asgaard ist mir nun mal heilig!, brauste ich innerlich auf.
Dann sag ihr das.
Ich konnte gerade noch verhindern, meine Arme tatsächlich voll Frust in die Höhe zu werfen.
Du weißt genau, dass sie das nicht verstehen würde!
"Linda, entschuldige", sagte Ypey. Sie sagte es laut und deutlich. Mit meinem Mund und meinen Stimmbändern und meinem Atem und ihrer eigenen lässigen Ruhe. Ich dagegen erschrak fast zu Tode. "Ehrlich gesagt, laufe ich lieber alleine. Ich kann nie so intensiv Musik hören, wir beim Joggen. Das ist mir sehr wichtig, diese Zeit allein, das Meditative beim Joggen. Es ist nichts gegen dich, wirklich. Verstehst du das?"
"Ja, natürlich verstehe ich das", sagte Linda mit einem bedauernden Lächeln und Verständnislosigkeit hinter den Augen. Ob sie mich bedauerte, weil ich so unsozial war? "Schön, dass du das noch gesagt hast. Bis später."
Sie ging zu ihrem Fahrrad.
Piece of cake, dachte Ypey zufrieden. Warum kannst du das nicht?
Bist du verrückt?!, schrie ich sie an. Du kannst doch nicht einfach die Kontrolle übernehmen. Ich spiele dich. Nicht umgekehrt.
Sicher?, lachte Ypey. Vielleicht sitze ich gerade mit meiner Rollenspielgruppe am Tisch und spiele dich.
Sie lachte schallend. Es füllte meinen Kopf aus und mein Herz mit einer plötzlichen Angst vor ihr. Ich kannte sie. Sie war skrupellos und schaffte, was immer sie sich in den Kopf setzte.
Mit zitternden Fingern verfehlte ich mit dem Sicherheitsschlüssel das Schlüsselloch und kratzte über das orange lackierte Holz der Tür.
Lass mich mal, bestimmte Ypey und ein inneres Handgemenge um die Kontrolle über meine Finger resultierte darin, dass der Schlüssel mit einem kurzen Klirren auf den Boden fiel, noch einmal hochsprang und dann direkt an der Kante des Gitterrosts über dem Abtritt liegen blieb. Atemlos hatten wir beide dem Weg des Schlüssels zugesehen. Ypey erholte sich natürlich schneller als ich.
Tolpatsch, schalt sie.
Aber sie versuchte nicht noch einmal, die Kontrolle über meine Hände zu bekommen.
Ich nahm den Schlüssel, schloss im zweiten Versuch auf und ging schnell hinein. Tief erschüttert lehnte ich mich an die Innenseite der geschlossenen Tür und wartete, bis meine Bauchdecke aufgehört hatte zu zittern.
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