13. und 14. Oktober
Ich bin jetzt gute sechs Wochen hier, dachte Ypey, als wir den ersten Tag meiner phantastischen Freiheit genossen.
Ich genoss auf dem Sofa.
Ypey war es offenbar zu langweilig.
Sechs Wochen und es ist noch nichts passiert. Erlebst du keine Abenteuer?
Also stand ich auf, schlenderte zu meinem Bücherregal und zog den ersten Harry Potter heraus.
Hier, dachte ich einladend und sie schlug ihn auf.
Ihre Augen flogen über die Zeilen und sie war nach der ersten halben Seite genauso verzaubert, wie ich gewesen war, als ich ihn zum ersten Mal gelesen hatte. Sie verschlang ihn. Auf Englisch.
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Schön, dachte sie 24 Stunden später, in denen ich das Lesen nur unterbrochen hatte, um Feanor Mittag- und Abendessen hinzustellen, sehr schön. Aber!
Aber?
Aber ich nehme doch mal an, es ist nur eine Geschichte.
Das nehme ich auch an, schmunzelte ich.
Nur eine Geschichte, wiederholte sie. Zeitvertreib. Einem echt selbst erlebten Abenteuer kommt es nicht gleich.
Ich habe auch noch die anderen sechs Bände.
Sie zögerte. Es war verlockend. Aber dann standen wir entschlossen auf.
Lass uns durch die Stadt ziehen, dachte sie heftig. Immer, wenn ich losziehe, passiert mir irgendetwas Spannendes. Lass uns sehen, ob es hier auch so ist.
Wir gingen los.
Es zog mich zur U-Bahn. Ich löste ein Tagesticket und zahlte mit einem 5-Euro-Schein.
Das Geld und die EC-Karte hatten Ypey ja von Anfang an fasziniert, aber als wir in der U-Bahn saßen, war ich doch etwas schockiert, als sie einen weiteren Schein aus meinem Portemonnaie zog und diesen prüfend gegen das Licht des Fensters hielt, hinter dem große Häuser vorbei rauschten. Sie kniff die Augen zusammen, betrachtete die sich zusammensetzende Fünf, die vielen feinen Linien, den Metallstreifen. Sie drehte den Schein und ich spürte, das Jucken in ihren -- meinen -- Fingern, zu versuchen, ihn zu fälschen.
Nachdem ich mit etwas Mühe die Augen wieder übernommen hatte, um mich damit beschämt umzusehen, bekam ich schließlich auch die Hände wieder unter Kontrolle und steckte das Geld weg.
Bevor ich sie aber zurecht weisen konnte, dachte sie ungerührt: Abenteuer Nr. 1: Heute Nacht schrauben wir einen Ticketautomaten auf und sehen uns an, wie er diese Scheine als das erkennt, was sie sind.
Kommt nicht in Frage, dachte ich zurück. Das ist illegal!
Sie lachte. Laut.
Die Leute guckten.
Sie zog den Stadtplan aus meinem Rucksack.
Den darf ich angucken, ja?, tat sie scheinheilig.
Sie blätterte durch die Seiten, fuhr mit dem Finger U-Bahn-Linien nach, legte den Kopf schief, wenn sie Straßennamen las und summte vor sich hin.
Plötzlich stutzte sie.
Diagonalstraße, dachte sie. Cool.
Ich wusste sofort, was sie meinte.
Ja, aber guck mal, das sieht nach Industriegebiet aus. Da ist bestimmt nichts los.
Lass' mal nachgucken.
Also stiegen wir an der entsprechenden Haltestelle aus und wanderten durch die Diagonalstraße. Trostlos.
Wow, hier ist ja echt nix los, kommentierte Ypey nach einem halben Kilometer, auf dem schwere Laster und lange Schlangen fast leerer PKW an uns vorbei gebraust waren, den wir auf gleichförmigen Waschbetonplatten gegangen waren, und auf dem die Vielzahl stumpf guckender Fenster nur gelegentlich unterbrochen worden war, durch einen Spielplatz hier, eine Tankstelle da.
Ich weiß nicht, was wir erwartet hatten. Das war es nicht.
Vielleicht liegt es daran, dass "Diagonalstraße" so unendlich viel weniger lustig ist als "Diagon Alley", meinte ich, als wir auf einer Brücke anhielten. Selbst die Brücke und der Kanal, über den sie führte, waren so unscheinbar und belanglos, dass sie kaum erwähnenswert waren.
Vielleicht, erwiderte Ypey mit mehr Leben, kannst du auch nur nicht unter die Oberfläche diese Klinkerfassaden sehen. Hörst du nicht das Pochen? Da, hinter dem rot-orange-gestreiften Vorhang werden Schwerter in Einhornblut gehärtet.
Und auf dem Spielplatz, sprang ich darauf an, geht nachts eine dunkel gewandete Gestalt um, nimmt eine Handvoll Sand, um daran zu riechen und sie durch seine Finger gleiten zu lassen. Auf der Suche nach einem kleinen Hauch Freude, in unerreichbar fernen Erinnerungen.
Eine Meerjungfrau ist unter dieser Brücke in dem Kanal gefangen und erstickt langsam an dem giftigen Wasser.
Und der kleine Junge, der sie gesehen hat, will seinen alleinerziehenden Vater davon überzeugen, dass er sie rettet. Aber der glaubt ihm nicht.
Wir fanden weitere Anfänge von Szenen, bis ich das Gefühl nicht mehr los wurde, dass sich tatsächlich hinter jeder Wand und jedem Gebüsch eine packende Geschichte verbarg. Musste ja gar nicht Fantasy sein.
Dreimal liefen wir die Straße auf und ab.
Aber es waren nur Geschichten.
Nichts passierte.
Kein Abenteuer fand uns und so kehrten wir nach Hause zurück, um für Feanor Mittagessen bereit zu haben, wenn er von der Schule kam.
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