16. Oktober
"Mama?", fragte Feanor mich am nächsten Tag. "Übst du nochmal werfen mit mir?"
Ypey?
Klaro.
"Warum nicht?", lächelte ich dann. "Aber nicht hier. Ich weiß einen besseren Platz. Was hältst du von einem Ausflug in den Steinbruch?"
Dort waren wir seit dem Umzug nicht gewesen, obwohl er von der neuen Wohnung nicht weiter weg war als von der alten.
Feanor strahlte. Den Steinbruch mochte er. Auflüge mochte er. Und er wusste, es würde Picknick geben.
"Magst du mir helfen, Picknick einzupacken?", bot ich ihm an und während ich Äpfel in Schnitze schnitt, suchte er Kekse und Bionade zusammen.
Der Steinbruch war ein brachliegendes Gelände, in dem früher die gelben Steine abgebaut worden waren, die noch immer an manchen der alten Häuser in der Gegend zu sehen waren. Mittlerweile wuchsen dort Birken und Erlen und dorniges Gebüsch. Aber es gab auch eine große, steinige Wiese, auf der manchmal irgendwer ein Feuer entzündete. Die Wände waren steil und felsig und aus dem gleichen gelben Kalkgestein.
Es war nicht immer menschenleer, aber wir waren in einer Ecke hinter ein paar Haselbüschen weitgehend allein. Dort bauten wir uns große Steine auf, auf die wir kleinere Steine zu waghalsigen Türmen stapelten.
Ypey übte mit Feanor und er wurde sichtbar besser. Aber nach ein paar Minuten hatte er plötzlich keine Lust mehr.
"Was ist los mit dir?", fragte Ypey, als Feanor dabei trödelte, neue Wurfsteine aufzulesen. "Komm schon wieder an die Linie."
Feanor schleuderte einen Stein in Richtung der Linie.
"Lass das!", fuhr Ypey ihn an.
Er ist müde, war meine Diagnose.
Dann soll er sagen, dass er müde ist, und nicht mit Steinen auf mich werfen.
Auf dich würde er nicht im Traum mit Steinen werfen, dachte ich amüsiert.
"Machen wir Picknick!", rief ich ihm zu und er ließ dankbar die Steine aus seinem Arm auf den Boden fallen.
Ich breitete die mitgebrachte Decke aus.
Da hörten wir Stimmen. Eine andere Familie war hinter den Büschen unterwegs. Feanor horchte sofort auf und pirschte sich in die Büsche, während ich den Rucksack auspackte.
Plötzliches Kinderheulen schreckte mich auf.
"Hey, was soll das?", rief eine Frau mit den Schutzinstinkten einer Mutter.
Ich sprang auf und lief um das Haselgebüsch zu ihr.
"Kann ich helfen?", bot ich mich an.
Ihr etwa vierjähriges Kind brüllte und hielt sich den Arm.
"Etwas hat ihn getroffen", sagte die Frau irritiert, nahm ihr Kind hoch und eilte den Weg zurück, auf dem sie gekommen war.
Mit finster verengten Augen drehte ich mich um.
Feanor saß lachend auf der Decke und mampfte Kekse.
"Feanor, spinnst du?", fuhr ich ihn an. "Du kannst doch nicht einfach Steine auf fremde Kinder werfen!"
Meine Stimme war erstickt. Ich war den Tränen nah. Wie, zur Hölle, konnte ich ihm endlich klar machen, dass er Rücksicht auf andere Menschen nehmen sollte?
"Ich kenne den schon", sagte Feanor ungerührt. "Vom Spielplatz."
"Das tut überhaupt nichts zur Sache!", brauste ich auf. "Du sollst auch keine Steine auf Kinder werfen, die du kennst. Und auch nicht auf Erwachsene", fügte ich vorsorglich hinzu. "Auf gar keine Menschen."
"Wozu ist Steinewerfen dann gut?", fragte er und mühte sich ab, mit dem Flaschenöffner eine Bionadenflasche zu öffnen.
"Was?! Wenn ich gewusst hätte, dass du auf Kinder werfen willst, wäre ich bestimmt nicht mit dir hier her gekommen!"
In aller Fairness, sagte Ypey, muss man die Tatsache anerkennen, dass dieser Wunsch gestern schon klar gewesen ist.
Halt die Klappe!
Ich seufzte. Ihr Einwand half sogar etwas.
Ich setzte mich zu ihm auf die Decke und legte meinen Arm um ihn.
"Ich weiß nicht, wie ich dir das klar machen soll, Feanor", begann ich mit weicher Stimme, weil er sowieso bockte, wann immer er einen Vorwurf hörte. "Mir ist es wirklich wichtig, dass du Mitgefühl für andere Menschen lernst. Und Respekt. Dass du versuchst, mit dem, was du tust, anderen Menschen möglichst wenig weh zu tun."
"Warum eigentlich?"
"Naja, weil das die Welt ist, in der ich leben will. Eine Welt, in der die Menschen Rücksicht aufeinander nehmen und in der es ihnen nicht egal ist, wie es anderen geht."
Unbehaglich nuckelte er an seiner Bionade.
Was, wenn es ihm egal ist?, fragte Ypey.
Tränen schossen mir in die Augen.
Genau davor habe ich Angst, gestand ich ihr.
Vielleicht solltest du ihm dann genau das sagen, meinte sie.
"Hör mal", fuhr ich noch sanfter fort. "Als du Richard zum Essen mit nach Hause gebracht hast, weil er zuhause nicht rein gekommen ist. Da hast du dich darum gekümmert, was mit ihm ist. Du hast ihm einfach geholfen. Hat sich das nicht toll angefühlt?"
Er nickte langsam. "Außerdem konnte ich ihm das ferngesteuerte Auto zeigen", murmelte er.
Ich schloss die Augen.
Du versuchst es schon wieder hinten rum, meinte Ypey.
Erinnere mich daran, dass ich versuche herauszufinden, ob Kinder in seinem Alter natürliches Mitgefühl haben oder ob das erst später kommt, ja?, bat ich Ypey, während ich an Apfelschnitzen knabberte.
"Feanor, ich möchte, dass du mir versprichst, dass du keine Steine auf Menschen wirfst. Sonst war das das erste und einzige Mal Wurftraining hier."
Er legte die Stirn kraus.
"Na gut, wenn du das unbedingt willst", maulte er.
"Wenn ich was unbedingt will?"
Genervt verzog er den Mund.
"Ich verspreche", sagte er überdeutlich, "dass ich keine Steine auf Menschen werfe."
"Danke."
Ypey übernahm mit einem Grinsen.
"Und jetzt klettern wir ein bisschen", tat sie begeistert kund. "Dabei kannst du dir nur selbst weh tun."
Als wir den Steinbruch verließen, war es schon Abendessenszeit und wir hatten noch den Rückweg vor uns. Etwa auf halbem Weg fiel mir etwas ein.
"Hast du überhaupt schon Hausaufgaben gemacht?"
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