Hallo zusammen,
was für eine spannende Frage.
Ich finde die Erklärung, dass Magie die Entwicklung von Midgradischen Technologie hemmt, alleine gesehen nur sehr bedingt schlüssig. Es könnte ja auch magischen Fortschritt geben. Dieser tritt aber offensichtlich nicht ein.
Meiner Ansicht nach liegt die Erklärung dafür in der kulturellen "Disposition" der Midgardischen Kulturen. "Fortschritt" in unserem heutigen Sinn ist offensichtlich keine kulturelle Wert in den Midgardischen Kulturen.
Meiner Ansicht nach muss es in einer Kultur einen Wertekanon geben, der "Fortschritt" für relevant für die entsprechende Gesellschaft hält. Der pragmatische Nutzen einer Neuerung reicht, so glaube ich, nicht aus um diese in einer Kultur zu verankern. Der Wertekanon der meisten Midgardischen Kulturen scheint mir stark "traditionalistisch" zu sein. Vor diesem Hintergrund können Neuerungen wohl nur schwer bestehen.
Anders gesprochen: Wesen die ohnehin davon ausgehen, dass Neues nichts gutes bringen kann, werden sich auch nicht entsprechend orientieren, geschweige denn ohnehin knappe Resourcen zur Erfindung von Neuem einsetzen. Ich sehe hier parallelen zur historischen Antike: Es gab unglaubliche technische Ideen (und Experimente), die aber nicht zu dem führte, was wir heute als Fortschritt bezeichenen.
Diese "kuturelle Disposition" der Midgardischen Kulturen wird meiner Ansicht nach durch die Katastrophe der Seemeisterkriege verstärkt bzw. ist durch diese sogar hervorgerufen worden. Die Seemeisterkriege gelten wohl als Beispiel dafür, was passiert, wenn Wesen zu sehr nach "Fortschritt" streben: Nämlich die ultimative Katastrophe. "Fortschritt" kann vor diesem Hintergrund nur schwer zum gesellschaftsleitenden Paradigma werden.
Anderseits sind ist die Herrschaft der Seemeister bei den Wesen, die gegen die kulturell vorherrschende Meinung "fortschrittlich" denken der ultimative Fixpunkt: Es gilt den damaligen Standard zu erreichen. Fortschritt ist in diesem Sinn nicht "zukunftsorientiert", sondern auf die Vergangenheit gerichtet. In der Geschichte sind die "Neuerungen" vergraben, die die Welt voranbrigen könnten. Im gewissen Sinne ist die "Archaeologie" damit die "Naturwissenschaft" Midgrads. Es geht darum die Vergangenheit zu erforschen, um die Gesetze der Welt zu erkennen.
Meiner Meinung nach erklärt sich aus der kulturellen Disposition der unterscheidlichen Kulturen Midgarsds auch deren unterschiedlicher "technischer Standard". Wer in einer Klutur lebt, die traditionelle Werte vertritt und in denen es traditionelle Herrschaftstrukturen gibt, der wird eine in unserem Sinne "fortschrittliche" Kultur auch dann nicht als "fortschrittlich" (an-) erkennen, wenn diese im militärischen und technischen Sinn offensichtlich überelgen ist. China im 18., 19. und zu Beginn des 20. Jahrhundert, die Türkei im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert sowie Rusland im 19. Jahrhundert, sind nur einige wenige Beispiele für eine derartige kulturelle Disposition.
Schließlich gebe ich zu bedenken, dass der "Fortschrittsgedanke" historisch eng an eine bestimmte soziale Struktur gebunden war. Nämlich den Aufstieg des städtischen Bürgertums zur gesellschftlich dominierenden Schicht. Eine derartige soziale Struktur deutet sich auf Midgard bisher allenfalls in den Küstenstaaten an: Sie ist aber noch meilenweit von dem Bürgertum entfernt, dass die politische, kuturelle und wirtschaftliche Basis für die industrielle Revolution gebildet hat.
Jakob Richter